Mommy
Xavier Dolan, Canada, 2014o
Une veuve mono-parentale hérite de la garde de son fils, un adolescent profondément turbulent. Ensemble, ils tentent de joindre les deux bouts, notamment grâce à l’aide inattendue de la mystérieuse voisine d’en face, Kyla. Tous les trois, ils retrouvent une forme d’équilibre et, bientôt, d’espoir.
Mit diesem Mutter-Sohn-Melo zwischen gegenseitigen Liebesschwüren und Brachial-Beschimpfungen erlangte der frankokanadische Wunderknabe Xavier Dolan in Cannes noch mit Oberlippenflaum die höheren Weihen der internationalen Filmwelt. Man versteht's, mag dem genialische Jungfilmer in den letzten 30 von 138 delirierenden Minuten auch der Erzählsprit ausgehen. Bis dahin aber bringt er sein explosives Gespann mittels quadratischem Bildformat auf ständige Tuchfühlung und erzeugt mit hundert und einem Regieeinfall ein Klima fiebriger Unberechenbarkeit: Stakkato-Passagen zu Gassenhauern treffen auf lyrische Stimmungsbilder, unbändige Lebenslust auf ebenbürtige Wut, mitten im Irrsinn bilden sich unvermutet Inseln des Glücks. Und die Löcher im Plot, die widersinnige Wendung zum schwächelnden letzten Akt? – Who cares, da war vorher mehr als genug Adrenalin!
Andreas FurlerMommy est, avec Laurence Anyways, le meilleur film de Dolan, celui où le cinéaste parvient avec le plus de netteté à ses fins : parvenir à un certain étourdissement émotif du spectateur, tout en esquivant, certes parfois de justesse, le pathos fictionnel ou les entourloupes de scénario et de mise en scène.
JJoachim LepastierAvec ce mélo électrique sur les courants d’amour d’une mère célibataire, de son fils délinquant et de leur accorte voisine, le système Dolan, fait d’emphase et de lyrisme, carbure à plein régime.
Serge KaganskiMommy, film rempli d'amour en forme de bombe émotionnelle, nous explose à la face. Et nous laisse complètement sonnés.
Danièle AttaliDer 25-jährige frankokanadische Regisseur Xavier Dolan macht auch in diesem (seinem fünften) Film extreme Gefühlszustände auf der Leinwand sinnlich erfahrbar. Es wird nicht psychologisiert und nicht verurteilt: Die Kamera liebt ihre Figuren so sehr wie Diane und Steve einander und gibt ihnen, ihrer Lebensfreude und ihrer Verzweiflung Raum. Das tut weh. Und übt, auch wegen der grossartigen Schauspieler, einen unwiderstehlichen Zauber aus.
Christine LötscherGalerie photoso
Willkommen im unwahrscheinlichen Liebestaumel: Mit Mommy läuft dieses Jahr schon der zweite Film des Regisseurs Xavier Dolan. Sein Kino ist eine utopische Gefühlsschleuder für eine verhärtete Zeit.
Jetzt, da er keine Grenzen mehr hat, muss er sich selbst welche setzen. Seinen Spielfilm Mommy hat er im ungewohnten 1:1-Format gedreht. Links und rechts, da ist es schwarz, und dazwischen klemmt der Film, schmal wie ein Passfoto. Wer hat an der Leinwand gedreht? Xavier Dolan wars, er kann machen, was er will, seit er zum Festivalstar avanciert ist mit fünf stilisierten Filmen über die Unmöglichkeit der Liebe. Den ersten, J’ai tué ma mère, hatte er vor fünf Jahren fertig. Dieses Jahr, mit 25, brachte er Mommy ans Festival in Cannes und teilte sich am Schluss mit Jean-Luc Godard den Jurypreis. Da ist einer angekommen, wo andere erst anfangen, und manche sagen, Dolan sei nun immerhin alt genug, um sich bei der Jugend anzubiedern.
Sie meinen damit sein neues Drama Mommy, ein Fallbeispiel der Hyperaktivität und ein Film wie von Tollwut infiziert. Im eingezwängten Zentrum steht der Jugendliche Steve (Antoine Olivier Pilon), dessen Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom sich zur argen Belastung ausgewachsen hat. Er gibt sich zärtlich im ersten Moment und rast im nächsten herum wie ein wilder Hund. Eine Zeitbombe auf Beinen, dieser Steve, seine Mutter Die (Anne Dorval) liebt ihn und kann ihn nicht ausstehen. Sie fürchtet sich, wenn er explodiert; sie lacht, wenn er sie mit seinem Freiheitsdrang ansteckt.
Springen im Liebesdreieck
Und überhaupt hat diese Mutter selbst nicht alle Latten am Zaun und läuft herum in den Wappenzeichen des Teenagers, von den Paillettenjeans bis zum Kaugummi. Die zwei wollen sich lieben, ganz normal, als Mutter und Sohn, in der Vulgarität und im White Trash. Aber die Verhältnisse sind nicht so im Kanada der nahen Zukunft, wo ein neues Gesetz es Eltern erlaubt, ihre verhaltensauffälligen Kinder ohne Angaben von Gründen in die Klinik einzuliefern.
Im Prinzip also ist Mommy Science-Fiction, oder eher: eine Liebesutopie in der pathologisierten Gesellschaft. Zu Mutter und Sohn gesellt sich die Nachbarin Kyla (Suzanne Clément), die in der ungezähmten Beziehung das entdeckt, was ihr im eigenen Familienleben längst vertrocknet ist. So springen die drei im Liebesdreieck, gehen aufeinander los, verletzen sich und finden manchmal das Glück. Es sind Augenblicke der Lebendigkeit; und weil Dolan ein furchtloser Kitschbruder ist, zieht er alle Register. Close-ups, Zeitlupen, Clipeffekte, sogar der 90er-Staubwedel «Wonderwall» von Oasis: Dolan denkt sich das Kino als Gefühlsschleuder und Genre des Körpers, so wie in der Hochzeit des Melodrams. Andere drehen Einstellungen, Xavier Dolan dreht Shots! Shots! Shots!
Mommy funktioniert nach dem Prinzip von Kompression-Dekompression, die Seelen ziehen sich zusammen, der Druck steigt, es brodelt und zischt, und dann kommen die Schübe und Zuckungen. Aber so eingeschnürt ins enge Bildformat kommen die Figuren nicht aus sich heraus, sondern prallen ab an ihren Schranken. Dolan nutzt den Bild-rahmen für die Intensität der Grossaufnahme, fürs visuelle Adrenalin im Gefängnis der Bedingungen.
Kann sein, dass er nur ein Blender ist und ein Künstler von Gimmick und Gag. Aber wie erklärt das den Überschuss seines Kinos, das im Gewohnten einen neuen Ort für die Liebe findet und damit über die Grenzen hinausschnellt? Ob in Les amours imaginaires (2010), Laurence Anyways (2012) oder, zuletzt, in Tom à la ferme (2013): Stets durchbohrt die Liebe die gängigen, die erstarrten Muster, weil in der Realität ein mögliches anderes Leben schlummert, das uns entglitten ist. Es ist das ozeanische Gefühl unter den verhärteten Dingen, und manchmal füllt Dolan nur prätentiös sein Eimerchen. Aber zuweilen überschlagen sich die Wellen wirklich. Mommy ist so ein Film, unverfroren in der dramatischen Druckerzeugung, feingetunt in der Hysterie, manisch im Wellengang der Erzählung.
Ein überschwappendes Glückskino also, denn Xavier Dolan will nichts weniger als den Beweis für das Konzept Liebe erbringen – gerade dort, wo man ihr keinen Platz gibt, vor allem dort, wo sie dem Untergang geweiht ist. Dass die Zuschauer umgekehrt auch ihn zu lieben begonnen haben, sei «kompatibel» mit dem «Mandat» von Mommy, erzählt der junge schwule Mann im Gespräch in Cannes. So redet ein Xavier Dolan; er sagt nicht «Klischee», er sagt «Trope». Mit seinem Kino will er gegen die fixen Vorstellungen von Frauenfiguren im Film anrennen: «Ich will den Frauen im Kino Platz geben, aber Frauen mit echten Persönlichkeiten, nicht Frauen als Opfer, Stripperinnen, dumme Blondinen, als ‹die Freundin von›, als ‹die freche Schwägerin›, diese Tropen gehen mir auf den Sack.»
Eine Nacht lang flirten
Ausserdem habe er dazugelernt und wisse nun, dass das Herz der Schlüssel sei und nicht der Intellekt – nicht dieses zerebrale Verständnis von Kino. Daraus sei er «herausgewachsen», sagt Xavier Dolan, aber Stil müsse man noch immer haben, denn Stil heisse, zitiert er Gore Vidal, zu wissen, wer man ist. «Vor fünf Jahren hätte ich mir es verboten, einen Blockbuster wie ‹Thor› anzuschauen. Aber diese altklugen Vorurteile führen dazu, dass man missmutig und ein Snob wird, das habe ich abgelegt.»
Und er wird nun auch anders behandelt. Mit 15 Jahren habe er versucht, in Montreal Karten für Theaterpremieren zu ergattern, erzählt Dolan. Die Erwachsenen, die dort rumgestanden sind, hätten gesagt: «Was will dieses Kind hier, und was faselt es von Cannes?» – «Heute», sagt Dolan und macht eine kurze Pause vor der Pointe, «rufen mich diese Leute an, weil sie einen Job brauchen.» Das gehe in Ordnung, aber toller sei es, wenn er Leute treffe, die noch nie von ihm gehört haben. «Die wollen nichts von mir, nicht so wie die Jungs, die eine Nacht lang mit mir flirten, um mir am Schluss ihre Freundin vorzustellen, die Schauspielerin ist.»
Das ist die andere Seite – das kapitalistische Konkurrenzprinzip, mit dem sich die Welt wieder verhärtet. Dagegen arbeitet Dolan an, mit Erregungshitze und jenen Momenten, in denen die Gummizelle der Wirklichkeit mit etwas Schönerem geflutet wird. Seis in Tom à la ferme, wo Brutalität in Erotik umschlägt; seis in Laurence Anyways, wo mit bonbonbuntem Überschwang die richtige Frau aus dem falschen männlichen Körper ausbricht; in Les amours imaginaires, wo die Möglichkeit aufblitzt, dass zwei Menschen einen dritten lieben, gleichermassen und ohne einander ins Gehege zu kommen. Und jetzt in Mommy, wo Herz und Witz zusammenkommen und Dolan das hochkocht, was unter uns hindurchströmt, meistens unbemerkt und nur leise wogend.